NACHDENKLICHES


ANSTÄNDIG

Anständig ist ein Mensch,
der es auch dann ist,
wenn es keine Zeugen dafür gibt.



BESCHEIDENHEIT

Aus der Mode gekommene Eigenschaft.
Häufig anzutreffen bei Menschen,
die gute Gründe hätten, stolz auf sich zu sein.



DENKEN

Unabdingbare Voraussetzung des Irrens.
Manchmal der beste Weg,
sich Erlebenswertes zu verbauen,
insbesondere wenn das Denken
das Fühlen unterdrückt.



EGOISMUS

Chronische Charakterschwäche,
die das Erkennen tiefer Wahrheit
und das Erleben tiefer Liebe verhindert.



ERFOLGSMENSCHEN

Zu Unrecht beneidete Zeitgenossen,
denen in der Regel die Zeit fehlt,
ihren Erfolg zu genießen,
weil sie permanent dafür arbeiten müssen,
ihn zu erhalten.



ERFÜLLUNG

Was alle suchen und wenige finden.
Was manche leugnen und andere vortäuschen.
Was der Sinn des Lebens ist -
und das deshalb, wenn es fehlt,
die Frage nach dem Sinn des Lebens hervorruft.



FREUNDLICHKEIT

Sonnenstrahl im Dschungel des Alltags,
Rettungsring im Meer der Anonymität,
wohltuendes Freudenlicht
im großen Nebel der Gleichgültigkeit.



GEGENWART

Die einzige Zeit,
in der wir wirklich leben können,
sofern wir sie nicht mit ungeliebter Arbeit,
vergeblicher Liebesmühe, trister Nostalgie
und Zukunftsängsten verpassen.



GEWISSEN

Innere moralische Instanz,
die gewissen Menschen fehlt,
ohne daß sie diesen Mangel
als solchen wahrnehmen.



GLÜCK

Nicht eine Folge des äußeren,
sondern des inneren Wohlstands eines Menschen -
des Reichtums seiner Seele,
der Tiefe seines Empfindens,
der Weite seines Herzens.



HERZ

Sitz der Gefühle, im Gegensatz zum Kopf,
der als Sitz des Verstandes gilt.
Der Kopf nennt das Herz naiv,
das Herz nennt den Kopf einen Diktator.



IDEALIST

Aussterbende Menschenart,
über die Realisten und Materialisten
nur den Kopf schütteln können,
weil sich ihr Herz nicht mehr bewegen läßt.



KONTROLLE

Dauernde Überwachung.
Wer meint, Vertrauen sei gut,
Kontrolle aber besser, beweist Vertrauen
in die Kontrolleure der Kontrolleure
der Kontrolleure der Kontrolleure -
also endloses Vertrauen.



LESEN

Das Leben durch die Augen
eines anderen Menschen betrachten
und dadurch seine eigenen schärfen.
Lernen durch Miterleben,
Verstehen durch Mitempfinden,
Erkennen durch Mitdenken,
Träumen mit offenen Augen.



LIEBE

Höchstes und tiefstes aller Gefühle,
das uns dabei helfen kann,
den Unsinn in der Welt zu vergessen,
um uns an den Sinn des Lebens zu erinnern.



MÜSSIGGANG

Hohe und allgemein unterschätzte
Kunst der Umwandlung
freier Zeit in zeitlose Freiheit.
Mutter der Weisheit
und Vater des Lebensgenusses:
also nicht von schlechten Eltern.



OPTIMISMUS

Zuversichtliche Einstellung,
deren Vorteile die Nachteile überwiegen,
zumindest bei optimistischer Betrachtung.



REDE

Unbeliebte Veranstaltungsform,
bei der eine Person mehrere
oder viele andere zwingt, ihr zuzuhören -
und was noch schlimmer ist:
den Mund zu halten.



SCHAUSPIELER

Die einzigen Menschen,
von denen wir nicht enttäuscht sind,
wenn sie uns etwas vortäuschen,
es sei denn, sie täuschen uns schlecht.



SPONTAN

Unüberlegt, aus dem Bauch heraus,
einer plötzlichen Eingebung folgend,
die Tyrannei des Verstandes,
die Diktatur der Vernunft mißachtend.
Und manchmal durchaus ins Glück führend.



STOLZ

Sich selbst auf die Schulter klopfender,
aber im Grunde nur feiger
Angst- und Schutzmechanismus,
der die Menschen oft nur daran hindert,
wesentliche Erfahrungen und Erkenntnisse
über sich selbst, über das Leben
und die Liebe zu gewinnen.



TAGEBUCH

Perfekter Gesprächspartner,
der uns geduldig zuhört
und alles versteht, was wir ihm mitteilen,
der kein Geheimnis verrät,
das wir ihm anvertrauen,
solange wir ihn gut genug verstecken.



UNVERNUNFT

Es liegt eine Weisheit in der Unvernunft,
die sich die Vernunft nicht träumen ließe -
wenn sie träumen könnte.



VORURTEIL

Sicheres Urteil,
das man über Dinge oder Menschen fällt,
die man nicht kennt, wodurch man sich
meistens der Möglichkeit beraubt,
sie kennenzulernen.



WÖRTERMANGEL

Wenn man intensive Gefühle mitteilen möchte
und vergeblich nach Worten dafür sucht,
was einem bewußt macht,
daß die Poesie großer Gefühle sich nicht
oder nur völlig unzureichend in die
Prosa der begrenzten Sprachwelt übersetzen läßt.



Die Aphorismen wurden aus dem Buch
NUR TOTE FISCHE SCHWIMMEN MIT DEM STROM ausgewählt.

© an den Texten und Photos by Hans Kruppa

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